Donnerstag, 16. Juli 2015


(PLG)

ausgelöst vom tod meiner enkelin nina im alter von 
3 1/2 jahren.
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Prinzessin Lilinas Geschenk


Ein Auszug auch dem Buch „Mein Geschenk“  ISBN 978-3-8391-7290-2
von Zebin Gernlach






Eine fantastische

Geschichte


Lilli, die Babypuppe, berichtet:   (ist im Badezimmer mit WC)

Na, bis der oder die Erste kommt, kann dauern.
Es ist ja erst 11 Uhr 40.
Vor zehn Minuten war die Gastgeberin Helena noch mal hier,
aber das ging schnell und es tröpfelte nur leicht. Stresspinkeln!
Kann man ja verstehen. Vor dem ersten Ansturm ist
man leicht voll Lampenfieber.
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Dingdong!, geht’s jetzt in einer Tour.
Wasser marsch! – in eine Vase. Der Hahn vom Waschbecken
ging jedenfalls mehrmals auf und zu.
Ah, jetzt empfängt Tante Frieda erst den Neffen Tom, dann
Lisa und zuletzt die Kinder. Sie mussten wie Orgelpfeifen
parat stehen und Tantchen per Küsschen begrüßen.
Mensch, verhielten die sich angepasst, gibt’s solche Bilder
heute noch? Scheinbar, aber da muss doch was dahinterstecken.
Ach ja: Erbtante.
Helena hielt sich in diesem Falle an die alten Regeln und ließ
die anwesenden Kinder Aufstellung
nehmen. Immerhin war
das Haus längst noch nicht abbezahlt.
Geld regiert eben die Welt. Tante Frieda liebte nun mal küssende
„Orgelpfeifen“. Aber damit war das Schlimmste auch
schon überstanden.
Irgendwann wird sie wohl auch bei mir (Lilli) auftauchen.
Wasserlassen ging bei mir eben nur im Bad und ich saß hier
jetzt schon seit der letzten Innendekoration von Helena.
Ganz oben auf dem Regal in den Klamotten der jetzt echten
Enkelin Nina. Ihr waren die Sachen zu klein geworden.
Bisher war ich immer Nummer eins, aber seit Ninas Geburt
war ich in Helenas Bad verbannt.
Helena nahm mich mal mit. Per Bus fuhren wir zu ihrer Tochter
Lisa. Sie lieh die Kleidung aus für mich, bis, wie Lisa sagte,
„Nummer zwei“ hineingewachsen sein würde.
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Helena steckte mich in den Rucksack. Mein Kopf schaute
dabei heraus. Einige Bus-Fahrgäste waren davon angetan
oder freuten sich, dass ich mitkam, obwohl ich nur Helenas
Puppenenkelin
war (früher die Babypuppe ihrer Tochter
Lisa).
Lisa gehört nicht mehr zu den „Orgelpfeifen“. Sie war seit
geraumer Zeit mit Tom verheiratet und bescherte der Familie
den langersehnten ersten weiblichen Nachwuchs: Nina.
Da klingelte es wieder. Lisa öffnete die Haustür und ließ
Frauke und Nils herein, es war ein befreundetes Ehepaar der
Familie.
Aber was ist mit Sophie? Sie kommt und kommt nicht. Na ja,
sie hat ja auch einen längeren Weg. Sie kommt aus Hamburg.
Das ist ca. 50 Kilometer entfernt von hier.
Es ging auf 12 Uhr zu und sie fehlte immer noch.
Sophie (Helenas Freundin) ist übrigens auch eine (Aus-)Gezeichnete.
Ebenso wie Helena und Nina.
Im nächsten Augenblick war sie aber da. Sie brachte einen
großen Begrüßungsstrauß mit. Zum letzten Mal musste wohl
der Wasserhahn im Bad getätigt werden.
Lisa hatte den Riesenstrauß Rosen in einer Vase wunderbar
dekoriert und auf einem Beitisch positioniert.
Es sah sowieso toll aus, wie sie die vielen Sträuße im Raum aufteilte,
zwischen dem gedeckten Tisch, dem Sideboard und den
Gästen. Ein großer Chrysanthemenstrauß fand Platz in einer
Bodenvase,
die in der Nähe der Terrassentür aufgestellt
war.
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Es war inzwischen herbstlich geworden, fast alle hatten ihren
Urlaub schon verbracht. Einige waren sogar ins Ausland gereist.
Da die meisten aus der Familie schon wieder zu Hause
waren, war es auch nicht ungewöhnlich, dass sie so zahlreich
zu Helenas Geburtstag gekommen waren.
Es fehlten nur Ninas Onkel Emanuel (er hielt sich geschäftlich
in Neuseeland auf) und Theodor, weil er in Leipzig kurz vor
seiner Hochzeit stand und er im Moment mit den Vorbereitungen
zu sehr beschäftigt war.
Alle erzählten die neuesten Geschichten.
Margot war in der Türkei auf Urlaub gewesen und hatte billig
Lederwaren besorgt. Sie hatte die neue Garderobe an. Todschick!,
hätte ihr Mann am liebsten in die illustere Runde gebrüllt,
aber er wollte nicht auffallen und genoss den Anblick
nur mit schmunzelndem Ausdruck im Gesicht.
Außerdem war ja auch Helenas Neffe Rüdiger gekommen. Er
war immer das schwarze Schaf in der Familie gewesen, hatte
nie viel „Kohle“ und neue Klamotten schon gar nicht, außer
unsere „Erbtante“ hatte ein Schnäppchen gemacht und ihm
etwas zum Anziehen geschenkt (diese Dinge waren ihm wenig
wert, darum beachtete er sie nicht besonders).
Es war ein großer Haufen Gäste. Die bereits anwesenden
Familienmitglieder hatten teilweise auch ihren zahlreichen
Anhang mitgebracht.
So war Helenas Stube schnell voll, alle zusammen waren
es um die zwanzig Leute. Zum Glück waren auch Kinder darunter,
die die zunehmende Enge in Grenzen hielten.
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Bei Helena konnte man kurz vorm Terrasseneingang auf den
Rasen und den Spielplatz. Die jüngeren Onkels und Tanten
tobten mit den Kleinen vor der Tür. Das Wetter spielte auch
mit, da machte es mit Pluto (dem Haushund) noch mehr
Spaß beim Spielen.
Lisa nutzte die Gelegenheit und schob Nina in das Bad mit
Toilette zu mir. Sie waren meine ersten Gäste.
Nina schlief zumeist, wenn sie nicht gerade krampfte. Ja,
Nina hatte es „schwer erwischt“.
Inzwischen hatte sie ihren dritten Geburtstag gefeiert,
aber sie wirkte oft noch wie ein Baby, denn alles hing schlaff
an ihr herunter. Alle Muskeln blieben ungesteuert vom Gehirn.
Nina war es nicht mal möglich zu lachen. Sie war dazu
auch blind und mit ihrer Körpertemperatur hatte sie auch
Probleme.
Überglücklich waren die Eltern Lisa und Tom, als Nina wieder
essen und trinken konnte. Das hieß auch, dass Nina erst
einmal keine PEG (Magensonde) brauchte.
Die Hälfte ihres Lebens hatte sie auf Intensivstationen, in
Epilepsiezentren und in anderen Kinderkrankenhäusern mit
ihrer Mutter und teilweise beiden Eltern zugebracht.
Nina sollte gewickelt werden. Normalerweise war das wohl
noch gar nicht erforderlich, aber Lisa und Nina wollten mich
unbedingt besuchen.
Lisa hatte schon die neue Windel in der Hand, denn es
wurde Zeit, dass sie loskam, denn nur zwischen 13 und 16
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Uhr klappte es (Lilina-Zeit = Lilis Geschenk = das Leben für
Nina).
Es war 12 Uhr 55, als Lisa mich runterholte vom Rattan-Badezimmerboard.
Lisa setzte mich zu Nina auf die Waschmaschine,
kämmte meine wunderbar gesteppten Haare und
dekorierte die grün-gelbe Holzspange von Nina, damit mein
Gesicht frei war und nicht ständig Haarsträhnen meinen Blick
versperrten.
Denn ich konnte ja sehen und mich bewegen, ich hatte
ganz besondere Kräfte, aber nur in der Lilina-Zeit und nur
mit der besagten grün-gelben Haarspange.
Nina saß jetzt für mich auf meinem Platz im Bad. Aus der
Tür flitzte Lilina, ohne Rolli. Eben ein ganz neuer Mensch
(getauscht).
Eigentlich war es nicht Nina, sondern ich, Lilli. Aber alle glaubten,
es sei Nina. Deshalb sprachen alle von ihr und ich auch.
Komisch! Was war geschehen?
Ja, Nina wurde verzaubert.
Rein ins Bad brachte man Nina per Rolli voll gelähmt und
heraus kam Lilli (ich) als ganz normale Nina, als dreijähriges
quicklebendiges Kind. So, als wäre ihre schwere Krankheit
ungeschehen gemacht worden.
Ein Traum war erfüllt worden.
Aber von der Lilina-Zeit wussten nur wir sechs: Helena, Tom,
Nina, Lisa sowie ich (verwandelt zur Lilina) und Nick.
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Es passierte immer bei Familienfeiern und an Donnerstagen
in unserem Bad, in dem Nina uns besuchte.
Wie fast immer donnerstags kam Lisa mit ihr per Karre und
verschwand mit ihr schnell im Bad zum Wickeln. Und so kam
Lilina wie immer ab 13 Uhr vergnügt zu ihrer Oma Helena
herausgelaufen.
Helena zog sie schon aus der Haustür, denn sie und Lilina
machten nämlich immer donnerstags ihre Klinik-Tour.
Im Klinikum war nämlich ein Spielraum mit einem kleinen
Wildgarten hergerichtet worden. Mich reizte es nicht nur, da
zu spielen. Zusätzlich traf ich dort Nick (den Sohn einer Krankenschwester,
die ihn donnerstags während ihrer Dienstzeit
mitbrachte) draußen in der Höhle.
Er hatte sein „Zeichen“ gemacht (einen gezeichneten Pfeil
in den Sand), der in Richtung Höhle wies. Das war nämlich
unser Erkennungs-Code.
Ich zerrte an Helena herum, denn ich wollte erst mal zu Nick.
Meine Ungeduld (die nun schon eine Woche gezügelt war)
wurde immer unerträglicher. Kurz vor dem Ziel wurde es
immer am schlimmsten für mich.
Bloß meine Oma ließ mich noch nicht frei. Sie hielt mich an
einer Hand fest. Helena machte erst die Übergabe an die
Krankenschwester, denn immerhin wollte sie für mich eine
Betreuung sicherstellen. Sie wollte mich hierlassen, während
sie in der neurologischen Abteilung ihren ehrenamtlichen
Beratungsdienst aufnahm.
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Endlich war es so weit, Ich rannte sofort zu Nick und Oma
Helena ging in die andere Station. Sie besuchte dort neue Patienten
mit Schlaganfall und deren Angehörige oder deren
Besucher. Als selbst Betroffene konnte sie ihre Erfahrungen
dort effektiv weitergeben.
Nick und ich kannten diese Kinderstation schon lange. Hier hatten
wir schon unseren Start ins Leben verbringen müssen.
Wir waren nämlich beide sehr krank, ja sogar unheilbar
krank, laut Schulmedizin.
Wir trafen uns damals schon im Spielzimmer.
Unsere Eltern hatten zwar immer wieder in verschiedenen Einrichtungen
versucht, Heilung oder zumindest eine Abschwächung
der Krankheiten zu finden, aber es wurde ihnen immer
deutlicher gemacht, dass unser baldiger Tod eintreten würde.
Um es uns in unserer letzten irdischen Zeit so angenehm wie
möglich zu machen und um uns relativ entspannt leben zu
lassen, hatten sie uns Kinder in unsere angenehmste Umgebung
(und zwar nach Hause) geholt.
Uns gefiel es aber auch in der Klinik. Hauptsache, wir waren
so oft wie möglich zusammen.
Ich fand Nick in der Höhle. Wir machten alles, was sonst nicht
ging. Wir besuchten Nicks Opa im nahe gelegenen Schrebergarten.
Es machte uns große Freude, uns auf Bäumen zu
verstecken oder in der nahe gelegenen Wasserstelle unbekleidet
zu baden. Am Ufer lag dann verstreut unsere hastig
ausgezogene Kleidung.
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Als uns dann kalt wurde, blieben wir beim Opa, der die Beete
versorgte. Heute hatte er Erdbeeren für uns und wir genossen
sie. Nebenbei spielten wir mit dem Hund, der so groß
war, dass wir auf ihm reiten konnten.
Gekreische blieb nicht aus, aber die Nachbarn nahmen das in
Kauf, denn sie wussten, das passiert nur ein Mal die Woche,
immer Donnerstagnachmittag.
Meine Kräfte schwanden schnell.
Wir hatten ja die Höhle und verschwanden jetzt darin zum
Ausruhen. Ich kramte zügig meinen wertvollsten Schatz aus
der Jackentasche. Ich setzte mich dicht zu Nick und hielt den
Schatz ins schimmernde Sonnenlicht, das durch eine kleine
Bretterritze in die Höhle strahlte. Ich klemmte
den Schatz
(einen Kristall) so ein, dass wir in Decken eingekuschelt das
gebrochene Licht sehen konnten.
In unsere Augen strahlten die Farben des Regenbogens.
Uns beiden gefielen diese fröhlich glitzernden
Farben außerordentlich
gut.
Niemand störte uns. Im Lichtstrahl des Edelsteines
konnten
wir die Farben der Fantasie bewundern.
In diesen Augenblicken
waren wir am glücklichsten.
Nick träumte und erzählte mir eine Geschichte, die er in den
Regenbogenbildern sah.
Er war (statt mit seinen Gehhilfen) in Rittermontur und auf
einem Pferd zu Marlon unterwegs, um mit ihm zu kämpfen.
Denn Marlon hatte ihm etwas geraubt: seine Prinzessin Lilina.
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Marlon hatte sie ausgeführt. Sie alle drei kannten sich aus
dem gleichen Reitclub.
Marlon war durch seine wohlhabenden Eltern stets gut
finanziell ausgestattet, er konnte ihr somit einiges bieten,
zumindest das, was bezahlbar war. Es war sogar mal möglich,
sie zu einer Segeltour einzuladen.
Marlons Eltern planten damals eine Urlaubsreise und ihm war
es zu langweilig, alleine zu Hause in seinem gut mit Spielzeug
bestückten Zimmer zurückzubleiben.
Ich hatte meine Mutter überreden können, für kurze Zeit mit
segeln zu dürfen.
Zur vereinbarten Zeit, also um 15 Uhr 30, wollte sie mich
pünktlich am Heimathafen abholen, damit sie rechtzeitig mit
mir zum Umwandeln bei Helena im Bad sein konnte.
Aber das Schlimmste für Nick kam erst noch.
Es war ein romantischer Schönwetter-Nachmittag auf dem
Boot. Es gab Gegrilltes. Aber das reichte ihm ja noch nicht:
Er wollte seine „Prinzessin“ küssen.
Eine Wolke ließ das Geglitzer verschwinden und Nick konnte
den Kuss nicht mehr erkennen. Das Regenbogen-Fantasie-
Bild gab es nicht mehr.
Nick glaubte, sobald die Wolken weitergezogen wären,
könne er weitererzählen, denn ich erahnte seine Gedanken:
Indirekt hoffte er, mir auf diesem
Wege eine Liebeserklärung
machen zu können.
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Ich brachte den Stein nicht wieder zum Funkeln, außerdem
war es bald Zeit für den Heimweg und ich wollte heute
nichts Besonderes von Jungs wissen.
Nick war zwar mein beschützender Freund, aber ich betrachtete
diese Freundschaft mehr wie die eines großen Bruders
zu seiner kleineren Schwester.
Ich drehte den Kristall doch noch einmal, sodass noch folgende
Bilder erstrahlten.
Am höchsten im Kurs stand bei mir zurzeit das Halbblut
Mona. Eine herzensgute Araber-Misch-Stute. Neulich hatte
ich sie zum Ausritt. Das war ein schöner Tag.
Ich führte Mona aus der Box. Ich konnte gleich aufsteigen
und losreiten zum nahe gelegenen See, denn Marlon hatte,
um mir zu imponieren, Mona schon gestriegelt und hufgereinigt.
Ihre Mähne hing locker herunter. Ein kleiner Windstoß brachte
die lang gewachsene Mähne in einer Böe zum Flattern.
Ich verfolgte im Kristall den Ritt in Zeitlupe. Ich sah, wie ich
auf Mona am Ufer entlanggaloppierte, ohne Sattel und nur
mit einem Strick zu Trense und Zügel gebunden.
Meine unbedeckten Füße und Beine wurden oft nassgespritzt
von den im Wellenwasser aufschlagenden
Hufen
des Pferdes. Ein lauer Sommerwind
formte meine offenen,
langen Haare, die im gleichen Schwung wie Mähne und
Schweif des Schimmels wehten.
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Ich spürte das Gefühl von Freiheit, denn alle Bewegungen
waren unbeschwert und entkrampft.
–– Nick und ich wurden urplötzlich aus unseren Träumen
gerissen, denn Oma Helena rief laut: „Lilina, wir müssen los,
denn es ist schon 15 Uhr 20!“
Lisa wartete schon im Bad, denn es war bereits 15 Uhr 50,
als wir von der Klinik zurück waren. Um kurz vor 16 Uhr kam
Helena mit der frisch gewindelten Nina aus dem Bad.
Nina zeigte keine Regung. Ihre Mimik war so minimal, dass
nur die Eltern Gelassen- und Zufriedenheitsmerkmale in ihren
Augen lesen konnten. Ja, Nina ging es immer gut nach diesen
Treffen mit Nick. Er nahm sie so, wie sie ist. Er wusste ja von der
Tatsache, dass ich eigentlich die unheilbar kranke Nina bin.
Er hatte Nina schon damals auf der Kinderstation immer besucht,
als es ihr so schlecht ging, und er hatte ihr (Schwester-)
Herz gewonnen. Er hoffte es wäre ihr (Verliebten-)Herz, denn
er war verliebt und meinte zu spüren, dass es ihr erheblich
besser ginge, weil er mit ihr zusammen war.
Jetzt trafen wir uns nur noch donnerstags im Spielzimmer
und in Opas Garten und genossen diese unbeschwerten,
fantastischen Minuten. Außerdem konnten wir gemeinsam
die Bilder des Regenbogens durch den Kristall betrachten.
Es war die einzig gebliebene Möglichkeit, trotz fehlender Beweglichkeit
unsere Fantasien zu erleben, zu träumen – zu leben.
Der Sommer verflog schnell.
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Die Donnerstagstreffen waren bald zu Ende, denn Oma Helena
hatte für den Spätsommer ihre Urlaubsreise geplant.
Es war schon Mitte August und zeitbedingt blieben
nur
noch wenige Donnerstagstreffs mit mir.
Nick trauerte. Er wollte es unbedingt schaffen, seine Liebeserklärung
zu machen. Leider regnete es oft am Donnerstag.
Fast jeden Tag verfolgte er deshalb sehr aufmerksam den
Wetterbericht in Rundfunk und Fernsehen.
Eine Schönwetterperiode war angesagt. Er sagte zu sich:
„Diesen Donnerstag wird es klappen.“ Alles gelang und ich
wollte, wie immer, meinen Zauberkristall mitnehmen.
Wetterbedingt haben wir schon oft die Nachmittage
in der
Höhle verbracht.
Oft kuscheln wir uns dann aneinander, dabei berichte ich
Nick von Ninas Sorgen, wenn sie im Rolli liegt. Sie hat den
Lebensmut verloren.
Ihre Familie, einige Ärzte und sozial denkende Leute sind ihr
wohlgesonnen und umsorgen sie mit ihrer Liebe und Fürsorge,
bloß Freundschaften
kann sie nicht aufbauen, schon
gar nicht neue entwickeln, denn von selbst nimmt sich kaum
jemand Zeit für sie.
Es gibt einige Menschen, es sind hauptsächlich Kinder, die
mit ihr zusammen sein wollen. Die Kinder spielen ohne Hintergedanken
mit ihr, sie nehmen sie so, wie sie ist.
Oft kommt es vor, dass keiner etwas mit ihr zu tun haben will,
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denn sie kann ja nichts. Nicht mal lächeln oder jemanden anschauen.
Sie passt ganz und gar nicht in diese Ellenbogengesellschaft.
Sie will nicht länger leben, weil es zu wenig Liebe gibt.
Besonders die Familie spürt diese diskriminierenden
Blicke
der Mitmenschen. Und sie gelten immer nur ihnen, wo immer
sie mit Nina aufkreuzen,
wie zum Beispiel in Lokalen
oder in sonstigen öffentlichen Einrichtungen.
Nie ist es selbstverständlich, sie müssen meistens erst einmal
erklären. Das machen sie dann auch, denn mitunter spricht
man sie sonst gar nicht an, man beachtet sie nicht einmal.
Sie spüren oft, wie die Menschen (sogar im erweiterten Familien-
und Bekanntenkreis) denken: „Bemitleidenswerte
Nina,
dein Sterben wäre für dich besser.“ Dass es besser ist, denke
ich nicht, aber jedenfalls unkomplizierter für manch’ anderen,
aber nicht für Nina.
Nick hat sich fest vorgenommen, heute seine Liebeserklärung
auszusprechen. Die Zeit verrann, aber Lilina kam nicht.
Es war heute Morgen im Bett. Ninas Körper wurde
sehr kalt.
Ihre Mutter lag neben ihr und sie wurde durch Ninas Unruhe
wach.
Lisa holte wärmende Kissen, um Ninas Körpertemperatur
(so, wie es schon oft gelang) wieder ins Gleichgewicht zu
bringen.
Sie, der Vater und der Bruder hatten schon so oft und so
gut es möglich war für Ninas Wohl gesorgt. Aber der Kinderkörper
blieb eiskalt.
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Nina schaute noch ein letztes Mal hilfesuchend in die Augen
ihres Vaters, denn er hatte sie bei sich eingekuschelt, um ihr
von seiner Körperwärme abzugeben.
Alles blieb vergebens. Sie zuckte nur noch zwei Mal, entspannte
sich völlig und starb.
Nick kam noch an mehreren Donnerstagen in die Höhle,
aber ohne Nina wollte und konnte er nicht glücklich werden.
Nina fehlte ihm und auch ihr Kristall zum Betrachten
der Fantasie- und Wunschgeschichten.
Da passierte es auf dem Weg zu seiner Tante. Wegen eines
falsch eingeschätzten Wegemaßes geriet er auf einem Zebrastreifen
in den Wagen eines egoistisch fahrenden Rasers.
Er kam ins Krankenhaus. Die Schwere des Unfalls ließ ihn
komatös werden. Angehörige, Ärzte und Pflegepersonal hatten
das Möglichste geleistet. Er spürte, dass es jetzt auf ihn
selbst ankam, der Zukunft eine Richtung zu geben.
Er sollte sich entscheiden. Er wog alle Perspektiven zum Leben
oder Sterben ab. Er entschied sich für die Sterbeschale,
denn er konnte sich nur eine Gemeinsamkeit mit Nina vorstellen,
um sich wohl zu fühlen.
Die Entscheidung fiel ihm leicht, zumal auch er ein (Aus-)
Gezeichneter durch Muskelschwund war.
Eines der Kriterien war auch die Diskriminierung.
Er hat immer gefühlt, dass etwas fehlt.
Er spürte es an seinem angespannten Bauch.
Er spürte Unruhe und Angst.
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Sich richtig entspannen konnte er sich ausschließlich in
Ninas Anwesenheit.
Somit war seine Entscheidung eindeutig.
Der wahre Wert des Komas besteht darin (und dieses gelingt
nur wenigen Menschen), in diesen besonderen
Sterbe-
Leben-Prozess aufgenommen
zu werden.
Es ist allein von der eigenen Entscheidung abhängig,
ob
man selbstbestimmt das neue Leben
leben will.
Denn wer das Koma durchlebt, ist vom „verrückten“
Weg
auf den vollkommenen Pfad (vom Nebel ins Klare), ins gereinigte
neue Leben gelangt (Koma = Leben, rückwärts gelesen:
Nebel).
Durch die eigene kompromisslose Entscheidung im Koma
(und aus diesem erwacht zu sein) gelangt der Mensch in ein
neues, geklärtes, von Abfall (den der einen negativ behandelnden
Menschen) befreites, bewusstes und damit selbstsicheres,
glückseliges Leben (mehr dazu im Kapitel „Ich hab
das Geschenk angenommen“).
Eine Veränderung hat in der Person stattgefunden,
weil
sie die richtige Mischung aus Mut und Angst umwandeln
konnte, die die erforderliche Kraft ergibt.
Sie hat sich bereitet, ein Tal zu durchwandern und somit
die Chance genutzt, auf den neuen Gipfel der Selbstsicherheit
und Glückseligkeit zu gelangen. Allein dadurch beginnt
das gereinigte Leben neu (diese durch das Koma gegebene
Möglichkeit ist die gereinigteste Form, um zur eigenen Zufriedenheit
(Freiheit) zu gelangen).
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Nicks Glücksweg ist der Weg zu Nina. Und Nina hat den Kristall.
Dadurch wäre es möglich, gemeinsam
ihre Fantasiegeschichten
und -träume zu sehen.
Im zweiten Leben müsste er für ein etwas weniger
diskriminiertes
Leben Dinge vollbringen, die er sich nicht vorstellen
konnte zu bewältigen.
Dabei müssen Dinge wie Computer, Nintendo, BlackBerry
usw. nicht nützlich sein, auch wenn sie ihn eingeschränkt
achtbar machten. Aber solche Statussymbole zerstören eben
nur die Möglichkeit zur Bildung fantastischer Gedanken.
Und er ist kein revolutionärer Typ. Darum war seine Entscheidung
im Sterbeleben einfach zu fällen.

Immer wenn ein Regenbogen am Himmel zu sehen ist,
könnte das ein Gruß von Nina und Nick sein, denn auch der
gelang ja nur durch den Kristall.
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Schön,
dass Wunder uns
immer wieder überraschen,
und uns wenn wir sie sehen und annehmen,
glücklich machen können.

Wunder bereichern mein Geschenk.                    

© ZebinGernlach.de ( komawach)
 

1 Kommentar:

  1. Hallo Frau Gernlach,
    nun habe ich die Zeit gefunden die Geschichte über Nina zu lesen.

    Ich habe bewundernd und voller Rührung gelesen und bin tief bewegt über das WIE und WAS.
    Ich behalte die Geschichte im Herzen und auf meinem Computer und werde in schwierigen Situationen daran zurückdenken, sie hervorholen und bin mir sicher, dass Sie mit diesem Text nicht nur die eigene Trauer ein stückweit bewältigen konnten, sondern auch Menschen in ähnlichen Situationen eine große Inspiration sein können!
    Danke, für die Teilhabe.
    Liebe Grüße
    Wiebke Lopez
    Logopädin, Lüneburg

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